ACHTUNG! Hierbei handelt es sich um eine vorgänger Version des Partizipativ Ensemble Modells, die sich in Teilen in der Praxis nicht vollständig bewährte und daher überarbeitet wurde.
I – Pädagogische & Kulturelle Programmatik
Grundidee und Ziel des Partizipativ Ensembles ist es durch komplexe, demokratische und praxiserprobte Strukturen die Bildungsinstitution „Jugendorchester“ einerseits stärker in die Gesellschaft zu integrieren und zugleich in einen Bildungsraum umzugestalten, in dem Kinder und Jugendliche nicht nur ihre musikalischen Fertigkeiten in Gruppenkontexten verfeinern, sondern sich darüber hinaus auf vielfältige Weise ausprobieren, Eigeninitiative, Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein entwickeln und fördern, Organisation- und Teamkompetenzen ausweiten und anwenden und ein Demokratiebewusstsein schaffen und erproben können.
Mit diesen Zielen vor Augen durchzieht sich der demokratische Leitgedanke der Partizipation durch sämtliche Ebenen der Orchesterarbeit. Dies zu ermöglichen und eine Balance aus autoritativen und laissez-faire Führungsstilen zu gewährleisten, dienen die Grundsätze des Partizipativ Ensemble Modells, die vom Freien Jugendorchester Orientexpress – als Pilotprojekt des Konzepts – erprobt und verfeinert werden.
II – Konzeption
Um Partizipation nicht nur als ergänzendes und lediglich dann und wann auftretendes Element in der Jugendensemblearbeit aufzugreifen, sondern fest in die grundlegenden Strukturen zu integrieren, bestehen folgende Grundsätze als Fundament für die Organisation partizipativer Jugendorchester:
Grundsatz I: Teamoffenheit
Mit dem Ziel sämtliche elitären Assoziationen der Jugendorchesterinstitution aufzulösen und den Bildungsraum Orchester als Begegnungsraum vielschichtiger Personenzielgruppen zu ermöglichen, öffnet sich das Partizipativ Ensemble einer breiteren Bezugsgruppe als es bei herkömmlichen Jugendensemblen der Fall ist.
Auf alterstechnischer Ebene versteht sich das Partizipativ Ensemble als Vermittlungsinstanz und Treffpunkt sämtlicher Altersstufen der frühen und späten Adoleszenz zugleich. Die Möglichkeit an Partizipativ Ensemblen teilzunehmen eröffnet sich also ab dem zwölften (je nach Fall auch ab dem elften) Lebensjahr und bleibt bis ins frühe Studentenalter bestehen (danach ist die Teilhabe an Projekten der Art nur noch indirekt oder im Team „Künstlerisch-Pädagogische Leitung“ möglich).
Auf der zweiten Ebene ist das Auswahlkriterium des musikalischen Niveaus, das erwartet wird um an den Proben eines Partizipativ Ensemble teilzunehmen, auf vergleichbare Weise weit gefasst. Voraussetzung um im Partizipativ Ensemble zu spielen sind neben verinnerlichten Notenkenntnissen lediglich Fertigkeiten auf dem Instrument, die die Fähigkeiten richtiger Intonation einfacher und einfachster Stimmen in einem für das Instrument wesentlichen Tonraum gewährleisten, sowie erste Berührungen mit den verschiedenen Artikulationen und Dynamiken, die auf dem entsprechenden Instrument zum Standartrepertoire gehören. Damit beginnt das musikalische Niveau auf der Höhe herkömmlicher Mittelstufenorchesterprojekte allgemeinbildender Schulen (als Referenz gelten hier Orchesterprojekte, wie sie z.B. an deutschen Waldorfschulen vorzufinden sind.). Nach oben hin ist dem musikalischen Niveau der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen dagegen bis in die Profiliga keine Grenzen gesetzt.
Diese Spannweite wird dadurch ermöglicht, dass sämtliche Partituren (einzelne Ausnahmen natürlich nicht ausgeschlossen), die das Orchester spielt eigens von der Künstlerisch-Pädagogischen-Leitung für die bestehende Besetzung arrangiert, jegliche Stimmen also individuell auf die SchülerInnen zugeschnitten werden.
Grundsatz II: Dezentrale Organisation
Sämtliche Bereiche organisatorischer Art sind im Partizipativ Ensemble dezentral organisiert.
Zur Bewerkstelligung der Orchesterorganisation finden sich die SchülerInnen in verschiedenen Experten-Teams, die sich jeweils auf verschiedene Bereiche rund um die Orchesterarbeit konzentrieren, und Projektteams, die sich mit spezifischeren und übergreifenden Projekte beschäftigen.
Aktuelle Aufstellung von Expertenteams:
- Public Relation:
Das Team Öffentlichkeitsarbeit kümmert sich primär um die Außendarstellung des Orchesters (öffentlicher Auftritt des Ensembles [z.B. in sozialen Medien), Anwerben neuer Ensemblemitglieder, etc.) und erhält dazu sämtliche Kompetenzen in der Verwaltung und Gestaltung orchestereigener Kanäle auf „sozialen Internetseiten“, sowie die Befugnis das Projekt öffentlich in Medien o.ä. zu repräsentieren.
- Equipment & Logistik
Das Team Equipment & Logistik kümmert sich um Verwaltung, Instandhaltung, Anschaffung und Transport des Orchester-Equipments, sowie um Fragen der Bühnentechnik.
- Finanzverwaltung
Die Finanzverwaltung kümmert sich um die Verwaltung des Orchesteretas (Einnahmen [Mitgliedsbeiträge, Auftrittsgagen, Fördermittel], Ausgaben [Anschaffungskosten, etc.] .
Den beiden Teams Finanzverwaltung und Equipment & Logistik steht dabei zusammen ein bestimmtes Jahresbudget zu Verfügung, das nach eigenem Ermessen (ohne Beschluss des Orchesters) im Sinne des Projektes verwendet werden darf.
- Orchesterleitung / Orchestermoderation
Eine besondere Rolle kommt dem Team Orchesterleitung zu, das sich wiederum aus der Künstlerisch-Pädagogischen und der Organisatorischen Moderation zusammensetzt. Ihre Aufgabe liegt primär in der Vermittlung zwischen den Organisationsteams und der Kommunikation mit Kooperationspartnern und Veranstaltern.
- Organisation / Organisatorische Moderation
Das Team Organisation übernimmt die Moderation des Ensembles. In erster Linie bedeutet dies Vermittlung zwischen den Organisationsteams, aber auch die Planung von Veranstaltungen und Kommunikation mit Veranstaltern und Kooperationspartnern fallen in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerisch-Pädagogischen Leitung in den Aufgabenbereich der Organisatorischen Moderation.
- Künstlerisch-Pädagogische Leitung
Die Künstlerische Leitung, bzw. Künstlerisch-Pädagogische Leitung (KPL) ist das demokratische, patizipativ-pädagogische Pendant zum klassischen Dirigenten. Sie vereinigt Aufgabenbereiche des Dirigats und der Instrumentalpädagogik, wie z.B. Anleitung von Orchesterproben, der Vor- und Aufbereitung von Partituren (Komposition, Arrangement), Erarbeitung von Veranstaltungsprogrammen, Zusammenstellung des Repertoires, Mitmischung in organisatorische Aufgaben und die pädagogische Betreuung des Ensembles.
- Organisation / Organisatorische Moderation
- Je nach Begebenheiten und Entwicklung des Projektes kann die Ergänzung um weitere Gremien/Teams sinnvoll sein.
Da sich eine Gruppenstärke von zwei bis maximal vier Personen bislang in der Praxis am besten bewährte, gilt dies als Richtwert für die Größe der einzelnen Expertenteams.
Für spezifischere Projekte (wie z.B. Orchesterfahrten, Konzerte, Änderungen der Probenzeit, etc.) bilden sich formell oder informell Projektteams aus Vertretern der Expertenteams und Interessierten ohne Engagement in einem der Expertenteams zusammen.
Grundsatz III: Partizipative Künstlerische Gestaltung
Um die Teilnehmenden Schülerinnen und Schüler neben der Organisation auch partizipativ in die künstlerischen Gestaltungsprozesse einzubinden arbeitet das Partizipativ Ensemble mit drei verschiedenen Probentypen:
- Probentyp I: Registerproben / Gruppenproben
In diesen Proben teilt sich das Ensemble in mehrere parallel-probende Teilgruppen von 2 bis 6 Personen, die gemeinsam in Eigenverantwortung gesonderte Passagen aus den Gesamtensemblewerken oder Einzel-, Dou-, Trio- bis Sextettbeiträge proben. Dabei übernehmen die Gruppen in diesem Probentyp selbst die Regie ihrer Proben, lediglich Probenziele oder Fokus werden mit der Künstlerischen Leitung abgestimmt. Bei Bedarf können zwischen den Gruppen pendelnde Personen aus der Künstlerisch-Pädagogischen Leitung, während dieser Probenphase eine coachende Rolle einnehmen (Impulse setzen, Feedback geben, etc.), der Fokus dieser Proben liegt allerdings auf der Selbstgestaltung und dem Selbstmanagement der Gruppe und dient neben der Erarbeitung gesonderter Passagen oder Stimmen auch der gemeinsamen Interpretationsfindung der gespielten Werke. Diese gruppeninterne Interpretation beeinflusst somit wiederum die Interpretation des Gesamtensembles. - Probentyp II: Tuttiproben / Gesamtproben
Die Gesamtproben ähneln im Wesentlichen klassischen Orchesterproben. Unter der Moderation der Künstlerisch-Pädagogischen Leitung werden hier Ergebnisse aus den Gruppenproben zusammengefügt und unter Berücksichtigung, der von den Gruppen entwickelten Interpretation ins Gesamte komplementiert. Der Aufbau einer Gesamtprobe folgt dabei i.d.R. den drei Ebenen des konventionellen Prinzip des Produktive Üben: Erhalten, Aufbauen, Reflektieren (Auftrittsimulation)1 - Probentyp III: Sonderproben / Zusatzproben
Diese Proben sind nur bedingt als eigener Probentyp zu verstehen, eher bilden sie eine Mischform aus den verschiedenen Elementen von Probentyp I und II.
Die Sonderproben sind ein strukturell-integrierter „Puffer“, der die Möglichkeit freihält bei gesonderten Bedarf zusätzliche Proben einzuberufen, bei denen es frei steht inwiefern die Proben von einer Person (z.B. aus der Künstlerischen Leitung) moderiert, bzw. „geleitet“ wird.
| Anteil | Probentyp |
| 45 – 60 min. | Register- /Gruppenproben |
| 15 – 30 min. | Probenpause |
| 60 – 90 min. | Tutti- / Gesamtproben |
| 00 – 30 min. | Sonderproben (nur bei Bedarf) |
Grundsatz IV: Demokratische Entscheidungsfindung
Während die einzelnen Organisationteams des Partizipativ Ensemble grundsätzlich eigenverantwortlich agieren, und damit innerhalb eines gemeinsam gesetzten Rahmens über selbständige Entscheidungsgewalt verfügen, gilt für Entscheidungen von besonderer Relevanz für die Orchestergemeinschaft das Mehrheitsentscheidprinzip („Orchesterentscheid“). Für diese Orchesterentscheide kann u. A. auf den Zeitraum der Sonderproben zurückgegriffen werden. Komplexere Entscheidungen werden, insofern die Möglichkeit dazu besteht (z.B. im Rahmen einer Orchesterfreizeit), in einem Colloqium To Go2 abgehalten. Von dieser Regelung betroffen sind:
- Beitritt / Entlassung von Ensemblemitgliedern
- Zusagen / Absagen von Auftritten
- Auswahl von 70% des Repertoires3
- Größere Anschaffungen, die das Jahresbudget übersteigen
- Grundlegende Veränderungen der Orchesterstrukturen (Orchesterbrief4)
Schlusswort / Überführung in die Praxis
Soweit die Theorie, aber würde sich das Konzept auch in der Praxis bewähren?
Als Pilotprojekt Partizipativ Ensemble beweist das Freie Jugendorchester Orientexpress, das sich im Januar 2022 zur Demokratisierung ihres Ensembles auf Grundlage des Partizipativ Ensemble Modells entschied, das demokratische Jugendorchester funktionieren können. Ziel aber ist es, mit dem Konzept und Publizierten Erfahrungswerten Anstöße zur Etablierung neuer demokratischer Jugendorchester geben zu können. Denn die Zukunft der Bildung liegt in der Partizipation der Zu-Bildenden…
Weiterführendes & Ergänzungen
1 Prinzip nach: Kraemer, Rudolf-Dieter / Rüdiger, Wolfgang (2013): Ensemblespiel und Klassenmusizieren, Augsburg, S. 217 ff.
2 Colloquium To Go: Entscheidungsfindung (Diskurs, Vorträge, Austausch, Abstimmung) in Bewegung, d.h. während einer gemeinsamen, einfachen sportlichen Aktivität (z.B. Spaziergang, Wanderung, Frisbeeing).
3 Bis zu 30% des Repertoires können aus pädagogischen, künstlerischen oder auftrittstechnischen Gründen ohne Orchesterbeschluss von der Künstlerischen Leitung veranlasst werden.
4 Orchesterbrief: Dokument, in dem Vereinbarung über die Organisationsstruktur des Orchesters, Probenroutine und Anmeldedaten für wichtige Onlineplatformen, etc. festgehalten werden.
