Schüler vs. Notenschrift

  • Beitrags-Autor:Hannes Pohl
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Am Anfang war das Wort…

Sprechen Sie Russisch? Falls nein: nicht schlimm, ich bringe es Ihnen bei. Das ist im Grunde ganz einfach, ich bräuchte es dafür nicht einmal selbst beherrschen. Ich würde mit der kyrillischen Schrift beginnen, denn ohne die geht ja schließlich erst einmal gar nichts.

A und A sind im Deutschen und Russischen gleich. Bleiben Sie dabei! – ich komme ja noch zum Punk. Weiter zu Б und B, soweit ist es ganz einfach. Vom В, das aussieht wie B aber W gesprochen wird, über Й bis hin zum Я würde ich Ihnen die Aussprache eines jeden Buchstaben beibringen, würde Sie lehren wie Sie ihre Zunge bewegen müssen um den wunderbaren Laut ы auszusprechen. Bis Sie das ganze Alphabet beherrschen.

Ist das geschafft, dürfen Sie erste Wörter, dann kurze, leichte Sätze sprechen. ма́ло-пома́лу – Stück für Stück, Wort für Wort, Satz für Satz würden wir Schrift in Klang verwandeln. Bis Sie ganze Texte lesen können und das werden Sie schnell können, Sie müssen ja nicht verstehen, was Sie da sagen. Und schon nach kurzer Zeit laden wir Ihre Verwandschaft und die ganze anderen glücklichen Schülerinnen und Schüler meiner Russischschule zum Leseabend ein und Sie lesen den Master der russischen Literatur Michael Bulgakow:

Глава 1
Никогда не разговаривайте с неизвестными
В час жаркого весеннего заката на Патриарших прудах появилось двое граждан.

Und Sie lesen wundervoll, vielleicht sogar schöner als ich es könnte – was nebenbei bemerkt wahrscheinlich ist – und die Menge ist begeistert. So geht es weiter und weiter, Roman für Roman, Sonate für Sonate, ganze Zyklen werden Sie sich zu eigen machen. Was die Worte bedeuten, die Sie so großartig aussprechen, wissen Sie immer noch nicht, Sie werden es auch nie erfahren. Und am Ende werden Sie niemals auch nur ein einziges, eigenes Wort Russisch gesprochen haben.

… und vor dem Wort die Schrift?

Musik ist eine Sprache lautet die alte Volksweisheit. Nun, sollte das stimmen – und das ließe sich meiner Auffassung nach durchaus vertreten – so müssten sich doch wohl auch auch beim Erlernen dieser musischen Sprache Parallelen zum Erlernen amtlicher Sprachen schlagen, oder nicht?

Wie haben Sie sprechen gelernt? Indem man Ihnen als Kleinkind Buchstaben vor die Nase gehalten hat, Sie sie artikulieren lehrte, bis Sie auf Papier Notiertes flüssig vortragen konnten? – Vermutlich nicht.

Sprachlernende adaptieren Klang. Sie hören und lernen Klänge nach zu ahmen, sie beginnen den Klang mit Bedeutung zu verbinden, dann selbst zu füllen, sie lernen Sprechen. Sie lernen mit einzelnen Wörtern zu kommunizieren, Sätze zu formulieren, sie lernen den Klang der Sprache als Ausdruck einer Emotion, einer Bitte, einer Information oder Warnung zu verwenden. Dann irgendwann lernen Sie sie auf Papier (oder auf dem Smartphone) zu manifestieren und manifestierte Sprache wiederum in Wort und Sinn zu entziffern.

Das ist soweit eine sehr grobe und laienhafte Beschreibung des komplexen Prozesses des Spracherwerbs, aber worauf es mir an dieser Stelle ankommt ist die Reihenfolge von Sprache und Schrift. Wir lernen Sprechen, dann Lesen und Schreiben.

Warum aber nicht in der Musik? Wenn wir Musik als ein Sprache und unsere geliebten schwarzen Punkte als ihre Buchstaben begreifen – die Notenschrift heißt nicht ohne Grund „Notenschrift“ – so wäre es doch irrsinnig diese Sprache zunächst mit dem Unterrichten von Buchstaben zu lehren.

[…] Die Praxis zeigt, dass die Mehrzahl der Pädagogen von der ersten Unterrichtsstunde an damit beginnt, „Klavierspiel“ zu unterrichten. Der Schüler macht sich mit der Notation vertraut, spielt Übungsstücke und lernt Noten zu lesen und diese auf die Klaviatur zu übertragen. Das Prinzip dieses Vorgangs lässt sich mit der Formel Sehen – Spielen – Hören umreißen.

Alexander Nikolajew, Die Russische Klavierschule, Band 1, Methodische Hinweise zum 1. Band

So formuliert Alexander Nikolajew seine Kritik an dieser Praxis auf der zweiten Seite seiner Klavierschule. 1999. Vor rund 25 Jahren. Schnee von gestern also.

Könnte man meinen. Wollte man meinen. Doch noch heute stoße ich als Musikschullehrer auf Irritation, wenn Schülerinnen und Schüler nicht in den ersten Wochen schon mit der Notenschrift vertraut gemacht werden. Noch heute entscheiden sich auf der anderen Seite Eltern aktiv dafür, mich als Privatlehrer zu engagieren, in der Hoffnung in meiner Methode eine Alternative zur Schriftfixierten Schule zu finden. Noch heute werden Sie kaum ein deutschsprachiges Lehrbuch (mit Ausnahme der oben zitierten russischen Klavierschule) finden, das sich diesem Prinzip vom Sehen aus widersetzt. Noch heute lernen angehende Instrumentalpädagog*innen Musik von der Schrift aus zu vermitteln. Und vor Kurzem erst vertraute mir meine langjährige Duettpartnerin an, sie bereue es, so früh Noten lesen gelernt zu haben.

Sie glauben mir nicht? Dann probieren Sie mal folgendes und begeben Sie sich auf die Suche nach Schülerliteratur, die die Verwendung von Vorzeichen nicht um jeden Preis meidet. Ich wette mit Ihnen, ihre Suche wird dürftig ausfallen. Schülerliteratur ist in C-Dur notiert (vielleicht auch mal F oder G-Dur und enstprechender Mollparallele) Selbst für Klavierschüler. Dabei gibt es aus pianistischer Perspektive, keinen Grund dafür. Im Gegenteil. Es heißt Chopin habe seine Schüler*innen C-Dur als eine der letzten Skalen gelehrt, weil er sie für den Anfang als zu schwierig betrachtete und wer seine eigene Hand mal bei dem Abenteuer eine C-Dur Tonleiter zu spielen beobachtet hat, wird verstehen, woher dieser Gedanke rührt. Unterrichtsliteratur scheint für das Sehen, nicht für das Spielen entwickelt zu werden. Und das Resultat zeigt sich nicht selten in einer regelrechten Vorzeichenphobie.

Zwischenfazit: globale Erwärmung hin oder her, der Schnee von gestern scheint heute noch allgemeiner Konsens zu sein. Nur wieso?

Die Argumente für eine vom Gehör ausgehende Musikvermittlung liegen – so meine Behauptung – auf der Hand.

Argumente gegen Notenzentrierung

  1. Kapzitätsmanagement
    Gerade am Anfang verbraucht das Entziffern von Noten eine Menge kognitive Kapazität. Kapazität die dann für so Nebensächlichkeiten wie Technik, Rhythmus oder musikalischen Ausdruck – kurz: für das eigentliche musikalische Spiel – weniger zur Verfügung steht.
  2. Musikalisches Verständnis
    Wenn Noten zu einem Einladen, dann ist zum „musikalischen“ Arbeit nach dem malen-nach-zahlen Prinzip, nicht aber zu der Auseinandersetzung mit musikalischen Strukturen. Muss ich mir eine Melodie nicht merken, muss ich sie auch nicht verstehen. Noten erübrigen die Notwenigkeit, Motivrepitationen zu erkennen, Melodieentwicklungen zu verfolgen, Melodiegedächntis zu trainieren oder Polyphonien zu durchleuchten. Fähigkeiten, die sich ohne diese Barriere, bereits Fünfjährigen problemlos vermitteln lassen – was ich selbst nicht für möglich hielt, ehe ich die Notenzentrierung meines Unterrichtes hinter mir brachte – mit ihr aber zu einer langwierigen und steinigen Aufgabe wird.
  3. Gehörfähigkeit
    Der große Traum vieler Musikschüler*innen liegt darin, einmal dazu im Stande zu sein, jeden erdenklichen Song aus dem Radio (bzw. auf Spotify) oder aus einer eigenen melodischen Eingebung auf ihr Instrument (bestenfalls mehrstimmig) übertragen zu können. Eine Fähigkeit, die zu trainieren Neuroplastizität unabdingbar ist, eine Fähigkeit also, die besonders in jungen Jahren noch gut zu erlernen ist. Wertvolle Jahre, die wir an die Notenschrift verschenken.

Als Klavierlehrer schwimme ich gegen den Strom, stoße auf Verwirrung, wenn ich in der ersten Stunde mit so etwas wie dem Erhören und Unterscheiden von musikalischen Charaktären (Dur & Moll, Intervalle, etc.) komme, kein Wort aber über die Notenschrift verliere. Auch in der zweiten Stunde, keine Noten. Nach wenigen Stunden, spielen meine Schülerinnen mehrstimmig, teilweise Polyphon, kennen Cressendi und Ritardandi (wenn auch vielleicht unter anderen Namen), entwickeln Fingerspitzengefühl und technischen Ansatz – aber sie bringen keinen mit Notenschlüssel verzierten Morsecode mit nach Hause. Die musikalischen Ergebnisse sprechen dafür, die beständinge Freude am Unterricht spricht dafür und das sich stetig verbessernde Gehör spricht dafür – trotzdem entscheidet sich die deutsche Instrumentalpädagogik überwiegend für die Schriftzentrierung – und zwar aus guten Gründen…

Das Gegenargument

Das primäre Argument für die frühe Arbeit mit der Notenschrift lässt sich wie folgt zusammenfassen

„Umso früher meine SuS Noten lernen, umso länger haben sie sich hinterher damit beschäftigt. Mehr Zeit heißt mehr Training. Mehr Training heißt mehr Sicherheit.“ Das ist grundsätzlich plausibel. Lässt sich nur leider nicht mit der Erfahrung in der pädagogischen Praxis vereinbaren – jedenfalls mit meiner nicht. Zu oft wechselten längjährige Klavierschüler*innen, mit fünf bis siebenjähriger Klaviererfahrung und einer teilweise grandiosen Spieltechniker von Lehrerinnen, die nach dieser Divise lehrten, zu mir, in der Hoffnung bei mir endlich Noten lesen zu lernen. Zu oft begegne ich Pianist*innen, die jede Note mit einer Hilfslinien – vollkommen unabhängig ihres Kontextes – als „c“ interpretieren. Zu oft habe ich diese These widerlegt gesehen. Woran liegt das? Meine These zur Gegenthese: ein nicht durchdrungenes Konzept, bleibt auch mit Training unverstanden. Wie aber, sollen wir eine Schrift durchdringen, deren zugrundeliegende Sprache wir nicht kennen?

Auch meine eigenen Schülerinnen und Schülern widerlegen diese These, vergleicht man jene Schülergeneration, die vor der Entwicklung meiner lydian fourth method (vgl. Essay Konstruktion vs. Reproduktion) zu mir kamen, und denen ich noch recht früh und konventionell instruierend die Notenschrift beibrachte und jener Generation, die erst Spielen lernte und die Notenschrift mäeutisch-konstruktivistisch mit mir ergründete. Obwohl die Schülerinnen und Schüler der ersten Generation einige Monate bis Jahre vorsprung im Training mit der Notenschrift haben, bewegen sich die Schüler*innen, die diese Schrift nach den Prinzipien der lydian fourth method lernten meistens schon nach wenigen Monaten um Einiges sicherer durch dieses System. Ja – Routine ist wichtig. Aber sie fruchtet nur auf auf gut angelegtem Fundament.

Fazit

Der Ansatz, das Lernen der Notenschrift an den Beginn und/oder in das Zentrum der Instrumentallehre zu stellen, kontrahiert das Vorhaben, einer ganzheitlichen, künstlerisch-kreativen Musiklehre, wenn sie den Anspruch an sich erhebt, Verständnis und selbstwirksamen Umgang von und mit der Musik zu vermitteln und selbst in der Logik einer reproduktionsorientierten Instrumentallehre, die den Fokus auf das stilistisch-authentische, technische und sichere Interpretation musikalischer Literatur lenkt und Themen des Verständnis (Harmonielehre, Gehörbildung, Spiel vom Hören aus, etc.) an Theoriekurse auslagert, geht das Konzept nicht auf, denn das Lernen schwarzer Punkte, ohne ihren Kontext zu durchdringen ist unendlich mühsam. Alternativen gibt es viele1, lasst uns mit der Freude und Energie unserer Schüler*innen nicht leichtsinnig umgehen!


  1. vgl. z.B. „Konstruktion vs. Replikation – Skizzen der lydian fourth Methode“ ↩︎