The Vision
Es ist Frühjahr. Die Vögel zwitschern, auf den Wiesen blühen Tulpen und der Wind riecht nach Neubeginn.
Am Rande eines kleinen Waldstückes erstreckt sich ein nahezu erfurchtserbietener Hang. Dem Abgrund nahe, thront auf eben jenen Hang, den hellen Turm gen Himmel weisend eine kleine Kirche in Karamellweiß.
Dort, gegenüber dieser Kirche stehen wir, vor den Türen eines Gemeindehauses.
Ich vergaß zu erwähnen, wir befinden uns in einem kleinen Vorort der westfälischen Stadt Dortmund in Mitten eines Gedankenspiels. Wenn Sie mir folgen möchten, dann lassen Sie sich nur für den Moment darauf ein. Oder Sie tun es halt nicht, dann aber können Sie dieses Essay auch gleich beiseite legen und stattdessen etwas sinnvolles mit Ihrer Zeit anfangen – haben Sie heute ihren Insta-Feed schon gecheckt?
Sie sind noch dabei? Dann seien Sie herzlich willkommen, kommen Sie herein, die Türen sind offen. Darf ich du sagen?
Du betrittst einen geräumigen Flur, Stühle stehen hier und da, an den Wänden hängen Plakate hinter den Türen hört man Musik. Von dort erklingen Bossa-Nova Rhythmen, hier hört man Trompeten eine Tarantella spielen, im großen Saal wird angeregt diskutiert – vielleicht über Schostakowitschs Jazz Suite, vielleicht aber auch über das vergangene Wochenende – wer soll das schon so genau sagen? Kurzum: hier wird geprobt.
Trinkst du Café? Ich könnte uns auch einen Tee machen.
Und während wir uns einen Tee brühen gehen – nein! die Küche ist hier drüben! – kommt ein junges Mädchen vorbei, den Entwurf eines Plakates in der Hand. Es geht ihr gerade aber nicht um das Plakat, sondern sie fragt, ob ich eben zu den Streichern kommen könne – es gäbe ein rhytmisches Problem. Ich bin übrigens Künstlerischer Leiter des Ganzen hier – warum wir dann hier entspannt Tee trinken können fragst du? Gute Frage…
Vor den Saaltüren stehen zwei Schüler, offensichtlich in Planungsgesprächen vertieft. Vielleicht entsteht hier gerade das Programm einer Orchesterfahrt, vielleicht wird der Transport unserer Soundanlage für das Frühjahrskonzert organisiert.
So könnten Sie aussehen, die Proben eines demokratischen Jugendorchesters. Schülerinnen und Schüler verschiedenster Altersstufen und musikalischer Niveaus kommen zusammen entscheiden selbst, nicht nur was sie spielen, sondern auch wie. Die Probenleitung obliegt den Schülerinnen und Schülern, die Organisation – egal ob es um Finanzen, Equipment, Public Relation oder um das große Ganze geht – obliegt den Schülerinnen und Schülern – den OrchestermusikerInnen – wobei dieser Begriff ihnen nun nicht mehr gerecht wäre, denn Schülerinnen eines solchen Ensembles wären zugleich Interpreten, Manager und Teambuilder, wären Teil eines Resonanzraumes, in dem all dies erlernbar wäre.
Wo die Schulen heute leider zu meist noch zu eher defizitären Ergebnissen kommen: Teamwork, Organisationskompetenz, Diskursfähigkeit, künstlerische Ausdrucksfindung und Demokratiebewusstsein, ein solches Ensemble könnte… Stopp!
Schluss mit Konjunktiv. Seit Mai 2022 arbeitete und arbeite ich mit jugendlichen Musikerinnen und Musikern verschiedener Ensemble daran aus dieser Vision Wirklichkeit zu machen und was ich noch als Gedankenspiel einleitete wird inzwischen im kleinen Örtchen Löttringhausen wöchentlich zur Wirklichkeit.
The Reason
Nun schön, aber wieso? Haben wir nicht schon genug Ensemble und funktionieren die konventionellen Orchester unserer Städte und Komunen nicht bereits ganz gut? Partizipation ist ja schön und gut – aber brauchen wir das jetzt auch noch im Orchester?
Bevor ich nun doppelt erwähne, was längst geschrieben steht, zitiere ich hierzu Prof. Dr. Lisa Unterberg:
Es leuchtet zunächst ein, dass Jugendorchester Orte und Institutionen der musikalischen Bildung sind. Kinder und Jugendliche kommen hier regelmäßig zum gemeinsamen Proben zusammen, entwickeln ihre instrumentalen Fähigkeiten und erlernen das Zusammenspiel. Sie bereiten sich gemeinsam auf Konzerte vor und spielen vor Publikum.
Lisa Unterberg, Unser Orchester: unser Ding – Partizipation im Jugendorchester, üben & muszizieren 2/2017, Seite 44
Das Nachdenken über Partizipation erweitert den Blick und macht deutlich, dass Jugendorchester Lernanlässe über den musikalischen Aspekt hinaus in sich tragen. Partizipation hat, wie Jörg Zirfas deutlich macht, „im Kern eine politische Grundierung“. Partizipation ist ein konstituierendes Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften. Es ist entscheidend, dass sich die BürgerInnen mit demokratischen Institutionen identifizieren und sich in vielfacher Hinsicht beteiligen. Abstrakte demokratische Werte wie die Lust am Engagement und das Bewusstsein für die eigene Gestaltungsmacht fallen jedoch nicht vom Himmel, sondern müssen eingeübt und konkret erlebt werden: „Partizipation in der Bildung soll in diesem Sinne dazu beitragen, das politische Interesse zu erhöhen, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.“ Jugendorchester stellen einen pädagogischen Kontext dar, in dem diese Erfahrungen in überschaubarem und geschätztem Rahmen gemacht werden können.
Ein Gespenst geht um Europa – die Sorge um die Demokratie.
Kaum ein Tag vergeht, ohne dass wir uns mit Nachrichten über aufkommenden Extremismus, Rechtsdruck und Demokratieverdrussenheit konfrontiert sehen. Es scheint als verlöre sie sich in den Wirren der Komplexität unserer globalisierten Welt – „unsere“ Demokratie.
Demokratiebewusstsein ist zu einer wesentlichen Vokabel des gesellschaftlichen Diskurs geworden. Nur bleibt diese Vokabel in der Regel genau das: eine Vokabel. Wo dieses Demokratiebewusstsein herkommen, wo entstehen, wo gefördert werden soll, bleibt zumeist eine unbeantwortete, nicht selten gar nicht erst gestellte Frage.
Gleichzeitig sehen wir uns mit Krisen konfrontiert, die unsere bewährten Werkzeuge scheitern lassen, von uns eben jenes Element fordern, dass wir in „unserem“ bisherigen Bildungsverständnis vielfach vernachlässigen: Kreativität.
Und mit Kreativität meine ich nicht (unbedingt) künstlerischen Ausdruck, ein Musikinstrument zu spielen oder kreative Portraits anzufertigen, sondern die Fähigkeit sich Veränderungen anzupassen, out of the box Lösungen zu finden, die außerhalb bislang konventioneller Lösungswege finden. Wo aber könnte diese Kreativität entstehen? In Räumen der autokratischen Entscheidungsfindung, klaren Strukturierung und Hierarchisierung?
Partizipation will geprobt und einstudiert werden und das lässt sich nicht einfach in einer SchulAG „Demokratie“ bewältigen, sondern muss in realen Kontexten passieren.
Das Jugendorchester könnte genau diesen realen Kontext bieten, statt Heranwachsende mit dem wohlbekannten und motivierenden Satz „Dann geh´ doch in irgendeine Partei“ ab zuwinken.
Partiziperende Musiker*innen
Warum ist es überhaupt notwendig, über Partizipation im Jugendorchester nachzudenken? Jugendorchesterarbeit, ja musikalische Bildung überhaupt ist ohne Partizipation, z. B. ohne das aktive, partizipative Musizieren der Mitglieder, nicht denkbar. Wenn der Partizipationsbegriff jedoch ernst genommen wird, dann geht er über das reine Musizieren hinaus. Im Begriff der Partizipation schwingt immer auch die Frage nach der Macht und deren Ausübung mit: „Es geht um Teilhabe an Macht, um Mitwirkung an der Gewaltausübung, einerseits um eine Bestimmung der Subjekte über sich selbst […], andererseits um die Chance, auf die Geschehnisse Einfluss zu gewinnen, welche ihrerseits das eigene Leben im Allgemeinen wie aber auch in seiner besonderen, alltäglich konkreten Wirklichkeit bestimmen.“
Lisa Unterberg, Unser Orchester: unser Ding – Partizipation im Jugendorchester, üben & muszizieren 2/2017, Seite 44
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses sind Jugendorchester nicht per se Einrichtungen, in denen Partizipation möglich wird. Beim Blick in eine ganz normale Probe eines sinfonischen Jugendorchesters wird dies deutlich: Da sitzen Kinder und Jugendliche auf den von einer langen Orchestertradition vorgegebenen Plätzen hinter Notenpulten. Sie spielen erste oder zweite Geige, an einem vorderen oder hinteren Pult, dirigiert und angeleitet durch einen Orchesterleiter, der den Ton angibt. Die Kinder und Jugendlichen tragen zwar einen Teil zum Ganzen bei, Gestaltungsmacht haben sie aber nur in einem sehr begrenzten Rahmen. Orchesterproben sind aus bestimmten Gründen so gestaltet und nicht jeder künstlerische Prozess ist demokratisch. Manchmal ist es notwendig, dass ein erfahrener Orchesterleiter den Ton vorgibt, um das bestmögliche künstlerische Ergebnis zu erzielen. Dies alles hat seine Berechtigung – aber eben mit Partizipation wenig zu tun.
Partizipation im umfassenden Sinn wird dann im Jugendorchester möglich, wenn über den rein künstlerischen Prozess hinausgedacht wird. Es gibt eine Vielzahl von Entscheidungen, die getroffen werden müssen, von Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung und Verantwortung, die mit übernommen werden können: Entscheidungen über das Programm, Organisation von Probenwochenenden und Konzerten, Gestaltung von Programmheften und Plakaten, Entwerfen von Pressemitteilungen, Absprachen mit Partnern und Förderern. Die Jugendorchesterarbeit erhält so neue Impulse. Von den eigenen Mitgliedern, die Ideen entwickeln, und von außen. Häufig wird vergessen, dass hinter jedem Mitglied ein Netzwerk steckt, das durch die Partizipation ebenfalls aktiviert wird. Da tun sich ungeahnte Möglichkeiten der Entlastung und Unterstützung auf: Kontakte zu Druckereien oder Veranstaltungsörtlichkeiten, zur lokalen Presse oder zu Sponsoren.
Zeitverschwendung?
Gleichzeitig birgt die Partizipation ein großes Potential Bildungsprozesse (und die Arbeit im Jugendorchester ist so einer) grundsätzlich effizienter zu gestalten. Gar nicht mal all zu weit aus dem Fenster gelehnt möchte ich behaupten, dass es inzwischen bildungswissenschaflticher Konsens sein dürfte, dass die Einbeziehung von Lernenden in den Lehr-, Lern- und Vermittlungsprozess die Lernerfolge immens zu steigern vermag. Aber das detailliert zu beleuchten sprengt den Rahmen dieses Essays, und erübrigt sich hinsichtlich der dazu bereits bestehenden Literatur und Forschung ohnehin.
Wenn dieser Gedanke nun sogar in die Schulpädagogik, die nicht gerade für ihren flinken Pulsschlag bekannt ist, bereits allmählich Einzug erhält, stellt sich die Frage, wie sich unsere konventionellen, klassischen Strukturen im Musikensemble heute noch legitimieren lassen. Und Sie können sich darauf verlassen, dass dieser Beitrag nicht mehr online wäre, hätte ich eine ernstzunehmende Legitimation hierzu gefunden.
Kurzum: Partizipation ist grundsätzlich keine Zeitverschwendung – egal ob in schulischen oder außerschulischen Kontexten. Es ist nicht selten – vollkommen abgesehen von den kultur- und sozialpädagogischen Begründungen – schlicht eine effektivere Vermittlungsmethode.
Bericht aus der Praxis
Im Mai 2022 gründete sich das Freie Jugendorchester Orientexpress als privat-initiiertes Nachfolgeprojekt eines ehemaligen Schulorchester der Rudolf-Steiner-Schule Dortmund. Nach wenigen Monaten beschloss dieses Ensemble das Experiment zu wagen ihr Orchester zu demokratisieren.
Das durchaus ernüchternde Ergebnis war in erster Linie die Erkenntnis, das solche Transformationsprozesse ganz schön schwierig sein können.
Ein jüngeres Orchesterprojekt lernte aus den Fehlern des Orientexpress Orchesters und gründete sich im November 2023, anders als der Orientexpress von vorneherein demokratisch organisiert und auf der Grundlage des während des Orientexpress-Projektes entwickelten Modells zur demokratischen Orchesterorganisation. Dieses Ensemble besteht bis heute, musiziert, streitet und organisiert mit einer Lebendigkeit, die ihres gleichen sucht. Umso passender sein Name: Ensemble Vivace.
The Democratic Youth Orchestra
(Das Partizipativensemblemodell)
Kommen wir nun zum Detail, zu der theoretischen Grundlage dieses Projektes, sozusagen. zum „Grundgesetz“ unserer Mikrodemokratie – das Partizipativ Ensemble Modell.*¹
Wie eigentlich meine gesamte Arbeit ist auch das Partizipativ Ensemble Modell ein Work-and-Progress Projekt, das stetig weiterentwickelt, überprüft und an die Erfahrungen aus der Praxis angepasst wird. Erfahrungen aus der Praxis heißt hier Erfahrungen des Freie Jugendorchester Orientexpress – dem ersten Pilotprojekt des DYO (für diejenigen, die die vorherigen Kapitel übersprungen haben), oder evlt. bereits des Ensemble Vivace. Aktuell arbeiten wir mit der Version 2.1 des Partizipativ Ensemble Modells. *²
Achtung nun wird es theoretisch:
Dieses Modell erhebt keineswegs den Anspruch ein großes Meisterwerk, geschweige denn irgendeiner Weisheit letzter Schluss zu sein. Aber es ist ein Modell, dass sich bislang in einer Praxis bewähren konnte und dies – davon bin ich überzeugt – auch in anderen Kontexten könnte.
Die Vision eines demokratischen Jugendorchesters ist weiter keine Vision mehr, aber Quell einer Hoffnung, dass diese Art Bildungsarbeit partizipativ zu denken tiefgreifenderen Einzug in die Musikpädagogik erhalten könnte. Das Ziel aller an diesem Konzept beteiligter ist Wege aufzuzeigen, Bildung neu zu begreifen und in dem Sinne freuen wir uns schon darauf von deinem partizipativpädagogischen Projekt zu hören!
*¹ und spätestens hier dürften Sie feststellen, dass wir uns noch zu keiner einheitlichen Schreibweise für dieses Modell durchringen konnten…
*² für Einblicke in Entwicklung vgl. den Evaluationsbericht.
